Theorie

Die positive Kraft des Negativen

Veröffentlicht am: Tuesday, May 06, 2025 von David Symhoven

„Die Wahrheit sagen“ und „nicht lügen“ sind inhaltlich nicht äquivalent.

Die „Wahrheit“ schränkt ein. Sie reduziert. Sie erhebt einen Anspruch, den wir oft gar nicht einlösen können. Es ist schlicht unmöglich, immer und nur die Wahrheit zu sagen.

„Nicht lügen“ hingegen vergrößert den Raum der Möglichkeiten. Es öffnet. Es ist viel leichter, nicht zu lügen, als „die Wahrheit“ zu sagen. Jeder weiß, wenn er lügt. Oder?

Nicht zu lügen ist eine ethische Grundhaltung, Wahrheit im sozialen Kontext hingegen ist kontingent (also auch immer anders möglich) und damit ein Anspruch, der oft zu groß ist - dem man also nicht gerecht werden kann.

Es geht mir nicht um die Frage, ob es „die Wahrheit“ überhaupt gibt. Sondern um die positive Kraft der Negation. Darum, was möglich wird, wenn wir mit Ausschlüssen arbeiten – statt mit Behauptungen.

Dazu ein Beispiel: Stell dir eine Galerie vor mit 1.000 Bildern, aber nur 100 davon gefallen dir wirklich. Wenn du dich entscheiden musst welches davon das schönste Bild ist, engt dich das ein. Schließt du aber aus, z.B.: “Ich möchte keines mit düsteren Farben”, hast du mehr Spielraum. Du grenzt ein, aber öffnest zugleich. Die Kraft der Negation liegt in ihrer Offenheit.

Was für Einzelpersonen gilt, gilt in Organisationen erst recht: Die Suche nach der perfekten Zielvision führt oft zu einer Engführung. Statt Optionen zu eröffnen, wird geschlossen.

Diesem Thema habe ich auch ein ganzes Kapitel in meinem Buch „Die Illusion der Kontrolle“ gewidmet. Den Link findest du in den Kommentaren.

Ich finde es erstaunlich – zuweilen sogar amüsant – wie sehr sich Menschen, Organisationen und Menschen in Organisationen einschränken, indem sie „das Eine“ erreichen wollen. Allseits bekannte Fragen lauten:

  • Welches Ziel willst du erreichen?
  • Wo willst du hin?
  • Was willst du?
  • Was ist anders, wenn das Ergebnis erreicht ist?
  • Wo siehst du dich in fünf Jahren?

Meist folgen darauf Maßnahmen. Änderungen, die notwendig sind, um besagtes Ziel in der Zukunft zu erreichen – um die Lücke zu schließen zwischen dem IST und dem hypothetischen SOLL.

Das ist Common Sense in Organisationen. Fast schon ein Reflex. Die Veränderung wird mit einer Idealvorstellung in der Zukunft gerechtfertigt. Und zwar ausschließlich.

“Wir wollen Marktführer in Segment X werden“ – ein Evergreen der Unternehmensziele. Es eignet sich gut, um zu zeigen, wie sehr diese Formulierung andere Optionen ausblendet (z.B. neue Segmente, alternative Märkte, Kooperationen usw.). Mir ist klar, dass das die Funktion von Zielen ist: Handlungsfähigkeit herstellen durch ignorieren von Alternativen. Mir geht es hier aber um den Automatismus, der damit verbunden ist. Das ausgerufene Ziel als „einzige Wahrheit“ anzusehen - obwohl es auch immer hätte anders sein können.

Ständig auf einen idealen(!) Zustand hinzusteuern ist nicht nur anstrengend, sondern unmöglich – wie nur und nur die Wahrheit zu sagen.

Wie wäre es (per Analogie) stattdessen mal mit: nicht lügen?

Nicht zu lügen ist nicht nur einfacher. Es befreit. Und es öffnet mehr Spielräume als jedes Ziel.

Eine Alternative wäre, Dinge im IST – also in der Gegenwart – bewusst auszuschließen. Um paradoxerweise dadurch offener für die Zukunft zu sein. Statt zu fragen: „Was soll sein?“ lieber: „Was darf nicht sein?“

Nur wenn ich relevante Fehler in meiner aktuellen Wirklichkeitskonstruktion finde, ändert sich etwas. Das ist Common Sense in der Wissenschaft: Eine Theorie gilt, solange sie nicht widerlegt wurde. Nicht, weil sie „wahr“ ist, sondern weil noch nichts gegen sie spricht.

Newton galt als unumstößlich – bis Einstein kam. Der Rest ist Geschichte.

Und wie ist es in Organisationen?

Organisationen hingegen tun oft so, als sei das Ziel das Gesetz. Dort bauen wir Veränderung oft auf Annahmen auf, die niemand falsifiziert hat. Sondern einfach nur „gut klingen“. Die perfekte Strategie, das große Ziel, das idealtypische Wunschbild. Warum eigentlich?

Was wäre, wenn Veränderung mehr wie Wissenschaft funktionieren würde? Weniger Vision – mehr Kritik. Weniger „Was wollen wir erreichen?“ – mehr „Was darf so nicht bleiben?“ Statt Positives in der Zukunft zu behaupten, Negatives in der Gegenwart ausschließen. Statt Zielzustände zu entwerfen, Irrtümer zu eliminieren.

Und ja: Das erfordert vor allem starke Nerven. Kritiker sind oft unbequem. Miesmacher, Schwarzseher, Bedenkenträger – sie nerven. Aber sie sind unverzichtbar. So funktioniert Fortschritt. Wie der Hofnarr, der als Einziger dem König die Wahrheit sagen darf – ohne geköpft zu werden.

Manchmal ist es klüger, dem Unangenehmen zuzuhören, als dem Angenehmen zu glauben.

Deshalb halte ich die folgenden Fragen für unterschätzt:

  • Was willst du nicht?
  • Was kannst du ausschließen?
  • Was spricht dagegen?
  • Was lässt sich vermeiden?
  • Was passiert, wenn wir nichts tun?

Ich weiß, diese Fragen gelten als pessimistisch. Defizitorientiert. Blockierend. Aber das Gegenteil ist der Fall. Denn in der Negation steckt enorme Energie. Enorme Klarheit. Zu wissen, was man nicht will, ist die halbe Miete.

“Ich weiß nicht, wohin ich will, aber ich weiß ganz genau, wo ich nicht hin will” – und das ist der Anfang jeder guten Entscheidung.


Mehr zu dem Thema auch in meinem Podcast oder in meinem Buch Die Illusion der Kontrolle


Foto von Andrej Lišakov auf Unsplash