Eine Alternative zum Sender-Empfänger-Modell
Veröffentlicht am: Saturday, Mar 11, 2023 von David Symhoven

Das im Alltag gängigste Konzept von Kommunikation ist wohl das Sender-Empfänger-Modell. Dabei liegt der Fokus auf Seiten des Senders, der mit seiner Nachricht versucht, Informationen an sein Gegenüber zu übermitteln.
Luhmann unterscheidet auch zwischen zwei Instanzen, oder wie er es charmant formuliert: “informationsverarbeitende Prozessoren”. Er nennt sie “Alter” und “Ego” im Gegensatz zu “Sender” und “Empfänger”. “Alter”, der “Sender”, der etwas mitteilen möchte, und “Ego”, also “Ich”, der Adressat.
Bei Luhmann können beide Prozessoren, nicht nur psychische Systeme, also einzelne Personen, sondern auch soziale Systeme sein. Das ist bereits ein erster Unterschied zum gängigen Kommunikationsverständnis.
Kommunikation ist Selektion
Die Vorstellung der gängigen Kommunikationstheorien, es handle sich um eine Art Signalübertragung, bei der der Sender die Zustände des Empfängers geradlinig kausal festlegt, lehnt Luhmann vehement ab.
Denn in dieser stark vereinfachten Beschreibung des Sender-Empfänger-Modells liegen zwei Annahmen verborgen:
- Dass “Information” als solches in der Welt existiere.
- Dass sie sich von einem Träger zum nächsten übertragen ließe.
Als Konstruktivist geht Luhmann davon aus, dass Information erst durch einen Beobachter konstituiert wird:
“Informationen kommen nicht in der Umwelt, sondern nur im System selbst vor. Sie können also nicht als identische Einheiten aus der Umwelt in das System transportiert werden. […] Es hat also keinen Sinn zu sagen, dass in der Umwelt massenhaft Informationen vorliegen.” (Einführung in die Systemtheorie, Niklas Luhmann, S.129, 2002)
Ein weiterer Unterschied ist daher, dass “Information” ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation ist.
Luhmann definiert Kommunikation als:
“eine Synthese aus drei Selektionen […] Information, Mitteilung und Verstehen.” (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997)
Dabei ist die Selektion der Information und der Mitteilung “Alter” zuzuordnen, und die Selektion des Verstehens bei “Ego”.
Dahinter verbirgt sich eine Auffassung, die zu grundlegend anderen Erkenntnissen führt als die üblichen kommunikationswissenschaftlichen Ansätze. Entlang dieser drei Selektionsprozesse wird der Kommunikationsbegriff geschärft.
“Kommunikation ist Prozessieren von Selektion. […] Jede Selektionsentscheidung ist kontingent, das bedeutet immer auch anders möglich.” (Luhmann 1984, Soziale Systeme)
“Kommunikation ist allgemein dazu da, eine Information mitzuteilen, die auch anders ausfallen könnte.” (Luhmann Short Cuts 2001)
“Kommunikation besteht aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis.” (Luhmann 1997, Die Gesellschaft der Gesellschaft)
Eine Entscheidung für etwas ist gleichzeitig auch immer eine Entscheidung gegen etwas anderes.
Welche Information gewählt wurde (und viele andere nicht), welche Mitteilung (und viele andere nicht) und auf welche Art verstanden wird (oder auch nicht), ist das Ergebnis einer Wahl aus unendlich vielen Möglichkeiten. Es hätte immer anders sein können.
Der Möglichkeitsraum ist überabzählbar unendlich, wird jedoch durch Sinn eingeschränkt. Nicht alles ist in jedem Kontext sinnvoll kommunizierbar. Erst in der Kommunikation selbst wird der Sinn erschlossen.
Selektion der Information
Information ist:
“ein Unterschied, der einen Unterschied macht” (Gregory Bateson)
Ob etwas als Information wahrgenommen wird, ist eine Entscheidung des verarbeitenden Systems selbst:
“Information ist ein systeminternes Produkt.” (Luhmann, 1995, Die Kunst der Gesellschaft)
Beispiel: Du möchtest mit deinem Partner oder deiner Partnerin frühstücken und frische Brötchen kaufen. Du hast vergangene Woche beobachtet, dass zwei Parallelstraßen entfernt ein neuer Bäcker eröffnet hat.
- Durch die Differenz Bäcker vorhanden / nicht vorhanden hast du die Welt beobachtet und die Erkenntnis konstruiert, dass es dort einen neuen Bäcker gibt.
- Das initiale Erkennen erzeugt im System intern einen neuen Unterschied: Bäcker an jenem Ort / nicht an jenem Ort.
- Das ist Information – ein einmaliges Ereignis.
- Ein erneuter Reiz, z.B. euer Nachbar, der dich auf den Bäcker aufmerksam macht, erzeugt keine neue Erkenntnis, da sie bereits verarbeitet ist. Das sind Daten.
Die Differenz wählst du aus einer unendlichen Anzahl anderer Differenzen aus und entscheidest über die Art der Mitteilung.
Selektion der Mitteilung
Die Mitteilung ist der unstrittigste Teil der Kommunikation.
Da Information nicht trivial ist, muss auch die Mitteilung nicht trivial gewählt werden:
- Form und Medium sind auszuwählen: schriftlich, mündlich, bildlich, verbal, nonverbal, gedruckt, elektronisch etc.
- Auch nichts mitzuteilen steht zur Wahl.
“Eine Mitteilung ist also immer eine Selektion: eine Entscheidung für eine bestimmte Information, gegen andere mögliche; für bestimmte inhaltliche Sinnvorschläge und formale Darstellungsweisen, gegen andere mögliche.” (Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht, 4. Auflage, S.81)
Bei Alter gibt es eine Differenz zwischen der ersten Selektion “Information” und der zweiten “Mitteilung”.
Selektion des Verstehens
Die dritte Selektion ist dem Empfänger, also Ego, zuzuschreiben. Sie ist entscheidend, denn erst mit ihr kommt nach Luhmann Kommunikation zustande:
“Kommunikation kommt tatsächlich erst mit ihrem Abschluss im Verstehen zustande.” (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S.259)
Verstehen beinhaltet auch das Nicht-Verstehen. Es geht nicht um Konsens, sondern darum, die Mitteilung des Senders als solche zu identifizieren und zu interpretieren.
Egos Selektion beinhaltet die ersten beiden Selektionen.
“Kommunikation kommt nur dadurch zustande, dass zwischen Mitteilung und Information unterschieden und der Unterschied verstanden wird. Nennen wir den Adressaten Ego und den Mitteilenden Alter.” (Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S.195)
Zusammenfassung:
- Kommunikation grenzt sich deutlich vom alltagssprachlichen Verständnis ab.
- Nur die Kommunikation selbst kommuniziert – nicht die Menschen.
- Kommunikation besteht aus der dreifachen Selektion: Information, Mitteilung, Verstehen.
- Sie verfolgt keinen Zweck, sondern macht Anschlusskommunikation wahrscheinlich.
- Informationen sind Irritationen, denen Informationswert zugeschrieben wird – sie sind subjektive Konstrukte.
Was können wir daraus bisher lernen?
Organisationen können ihre Tätigkeiten koordinieren, weil Kommunikation nicht auf zeitgleiche Interaktion am selben Ort beschränkt ist.
Medien ermöglichen Fernkommunikation und damit die Möglichkeit, die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten und Aktionen vieler Individuen abzustimmen.
Der Trick überlebensfähiger Organisationen: Sie sorgen durch Routinen dafür, dass die Teilnehmer an Kommunikationen austauschbar bleiben, während Kommunikationsmuster reproduziert und erhalten werden.
Mehr zu dem Thema auch in meinem Podcast oder in meinem Buch Die Illusion der Kontrolle
Foto von Hugo Jehanne auf Unsplash