Kultur

Warum Unternehmen keine einheitliche Kultur brauchen

Veröffentlicht am: Wednesday, Aug 21, 2024 von David Symhoven

Kultur ist nicht entscheidbar

Jede Organisation bekommt die Kultur, die sie verdient, denn sie ist das Gedächtnis einer Organisation. Präziser: die Kultur spiegelt die Vergangenheit der Organisation wider. Sie ist also rückwärtsgewandt und, wie man neudeutsch sagt, ein “lagging Indicator”.

Kultur kann nicht bewusst und zielgerichtet hergestellt werden. Aber warum eigentlich nicht?

Neben dem in den letzten Jahrzehnten vorherrschenden Bild der Organisation als Maschine bietet Niklas Luhmann einen anderen Zugang:

  • Er beschreibt soziale Systeme (darunter Organisationen) über Kommunikationen.
  • Soziale Systeme sind operativ geschlossen und informativ offen und bilden dabei eine Grenze aus (wie die Haut eines Menschen), um sich von ihrer Umwelt abzugrenzen.
  • Die operative Geschlossenheit führt dazu, dass jegliche Art der Mitteilung zwar an diese (kommunikative) Grenze herangetragen werden kann, aber wie diese innerhalb des Systems verarbeitet wird, ist nicht kausal vorhersehbar, sondern wird durch das System selbst bestimmt.

Per Analogie: Du kannst auch nicht in andere Menschen hineindenken.

Das heißt nicht, dass du solche Systeme nicht konstruktiv beeinflussen kannst – nur beeinflussen, nicht kausal ändern. Hierfür bietet die Komplexitätswissenschaft viel Gedankengut, dazu mehr in einem anderen Beitrag.

Akzeptierst du, dass sich Organisationen als soziale Systeme über Kommunikationsmuster beschreiben lassen und dass diese Systeme operativ geschlossen** und informativ offen sind, dann kannst du folgern: Kultur als kommunikatives Phänomen in einer Organisation lässt sich beobachten und beeinflussen, aber nicht herstellen.

Beispiel:

  • Abends in die Oper gehen: Niemand würde mit Jogginghose und FC-Bayern-Pulli erscheinen.
  • Ins Stadion mit dem besten Freund: vermutlich kein Dreiteiler.

Im Stadion herrscht ein anderer kultureller Zwang als in der Oper – ohne dass jemand es definiert hätte. Kultur bildet sich hinter dem Rücken der Akteure, als unsichtbare Zwänge.

Luhmann bezeichnet Kultur als “unentscheidbare Entscheidungsprämisse”:

  • Kultur beeinflusst Entscheidungen, wird aber nicht bewusst mitgedacht.
  • Sie wird als selbstverständlich hingenommen, ihr Wahrheitsgehalt wird nicht überprüft.
  • Analogie: Der Schatten eines Objekts – man kann ihn nicht verändern, ohne das Objekt zu ändern.
  • Physikalische Analogie: Dunkle Materie – wir spüren die Auswirkungen, kennen aber den Grund (noch) nicht.

Wirtschaft funktioniert nach Zahlung / Nicht-Zahlung

Um zu verstehen, dass ein Unternehmen keine einheitliche Kultur benötigt, gilt:

  • Wirtschaft operiert auf Basis der Leitunterscheidung Zahlung / Nicht-Zahlung.
  • Der konkurrenzfähige Gewinn ist das alleinige, hinreichende Kriterium für die Existenz eines Unternehmens.
  • Alles andere – Agilität, New Work, Talentprogramme, Obstkörbe – ist notwendig, aber nicht hinreichend. Das Unternehmen muss es sich leisten können.

Kultur löst kein Problem der Wertschöpfung

Mit der Leitunterscheidung Zahlung / Nicht-Zahlung rückt die Lösung der tatsächlichen Wertschöpfungsprobleme in den Fokus, denn dort wird Geld verdient.

  • Kultur löst kein Problem der Wertschöpfung, sie stellt sich ein, wenn Menschen echte Probleme lösen (oder nicht).
  • Frage: Welches echte Kundenproblem wird durch eine Vereinheitlichung der Kultur gelöst?
  • Der Kunde interessiert sich für die Dienstleistung, möglichst schnell, in hoher Qualität, für wenig Geld.
  • Kulturentwicklungsprogramme sind oft Selbstbeschäftigung – die Zeit könnte man nutzen, echte Probleme zu lösen.

Diversifizierung im Kleinen sorgt für Stabilität im Großen

Ein Blick auf die Natur liefert einen spannenden Gedanken:

  • In der Natur gibt es keine Homogenisierung: kein Baum, keine Blume, kein Mensch ist identisch.
  • Jedes Mitglied einer Spezies erfüllt dennoch ähnliche Aufgaben im Ökosystem.
  • Jeder Akteur steht im direkten Wettbewerb mit der Umwelt, was Anpassung erzwingt.
  • Einzelne können scheitern, aber das Gesamtsystem gewinnt Widerstandsfähigkeit.

Kernaussage:

  • Diversifizierung im Kleinen → Stabilität im Großen
  • Fehlende Variation → keine neuen Ideen → Gefahr in Krisenzeiten
  • Redundanz in der Wertschöpfung → Investition in die Zukunft

Alles, was nicht schädlich ist, bleibt und sorgt für Vielfalt. Homogenisierung in Kultur, Führung oder Mindset schadet. Der Ruf nach einer einheitlichen Kultur ist eine Modeerscheinung – und wird verschwinden.


Mehr zu dem Thema auch in meinem Podcast oder in meinem Buch Die Illusion der Kontrolle


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